Was macht ein gutes Portrait aus?
Es ist eine Frage, die Fotografen und den Menschen vor der Kamera – sei es ein Model oder Kunde – eigentlich ohne Ende beschäftigen sollte: „Was macht ein gutes Portrait aus?“. Gemessen am Erfolg dieser Bildfabriken, in denen Kunde um Kunde durch das ewig gleiche Setting geschleust wird, scheint diese Beschäftigung aber viel zu selten stattzufinden. Und das ist kein Phänomen der Generation Instagram. Schon in Fritz Löschers „Die Bildnisphotographie“ wurde vor über 100 Jahren festgestellt: „In keinem der Gesichter ist etwas, was das Interesse des objektiven Betrachters fesseln könnte. Und so wie diese Bilder sind auch heute noch die unzähligen Photographien, die das Publikum sich machen läßt, in den Bilderfabriken, in den Warenhäusern, die es dann schön findet und mit denen es anderen ein Geschenk zu machen glaubt.“
Woran liegt das? Ist es wirklich so, wie Löscher an anderer Stelle beschreibt: „So entstand das ‚Schönheitsideal des Fachphotographen’, das gern bespöttelt wird, doch dieses Ideal – verhehlen wir uns das nicht – ist aus einer Wechselwirkung zwischen Photograph und Publikum hervorgegangen. ‚Das Publikum schätzt im Bildnis nur die sogenannte schöne Ähnlichkeit, das heißt die Unterdrückung des Charakteristischen […]‘, sagte Lichtwark 1893 bei Gelegenheit der ersten Hamburger kunstphotographischen Ausstellung.“
Eins der Probleme ist auf jeden Fall schon mal, dass gute Portraits zu erstellen, alles andere als trivial ist. Der Psychologe und Philosoph Ulrich Metzmacher stellt in einem Aufsatz sehr treffend fest, was ein Portraitshooting eigentlich ist: „Bei der Portraitsitzung handelt sich um eine Beziehungssituation, die den Beteiligten vor und hinter der Kamera einiges abverlangt. Der oder die zu Portraitierende begibt sich mit einem bestimmten Selbstbild und, meist noch bedeutungsvoller, mit einem Idealbild der eigenen Persönlichkeit in die Sitzung. Der Fotograf oder die Fotografin verfügt hingegen über ein Fremdbild des Menschen vor der Kamera.“ Die Kunst für den Fotografen besteht nun, sein Fremdbild mit dem Eigenbild oder gar dem Idealbild der Person vor der Kamera in Einklang zu bringen.
Das ist komplizierter als es vielleicht klingen mag. Der Philosoph Georg Simmel formulierte es schon 1918 in seinem Aufsatz „Das Problem des Portraits“ so: „Was wir nämlich an einem Menschen (auf ihn als Aufgabe der bildenden Kunst beschränken wir uns) wirklich sehen, das bloß Optische, sinnlich Aufgenommene seiner Erscheinung ist keineswegs dasselbe, was wir in der Gewohnheit des täglichen Lebens als das Sichtbare bezeichnen. Denn dieses angeblich Sichtbare ist ein buntes Gemenge des wirklich Gesehenen mit Ergänzungen äußerer und innerer Art, mit Gefühlsreaktionen, Schätzungen, Verknüpftheiten mit Bewegungen und Umgebungen; dazu kommt der Wechsel in Standpunkt und Anteilnahme des Beobachters, kommen die praktischen Interessen, die sich zwischen Mensch und Mensch knüpfen, – kurz, der Mensch ist dem Menschen ein fluktuierender Komplex von Eindrücken aller Sinne und seelischen Assoziationen, von Sympathien und Antipathien, von Urteilen und Vorurteilen, Erinnerungen und Hoffnungen.“
Hier werden auch wieder die zwei Arten von Portraits deutlich, die es in der Fotografie gibt. Die, die sich auf die reine Abbildung der äußeren Hülle, vielleicht sogar in einem einfachen generischen Setting, konzentrieren und die, die dem Betrachter die Person vor der Kamera wirklich näher bringen wollen.
Die erste Kategorie ist typischerweise das schnelle Foto in den großen Studioketten, wo sich üblicherweise der Kunde nach den Vorgaben richtet und nicht umgekehrt. Die zweite Kategorie jedoch ist die, die heutzutage leider immer seltener anzutreffen ist, da eins der höchsten Güter die Zeit geworden ist. Kaum ein Studio nimmt sich die Zeit den Menschen so kennenzulernen, dass man die Komplexität der menschlichen Erscheinung nach Simmel so aufzulösen vermag, dass dabei Bilder entstehen, die die äußere Hülle des Portraitierten durchdringen und dem Betrachter dabei etwas aus dem tiefen Inneren der Person vor der Kamera erzählen.
Auch Loescher schlägt noch ein paar Jahre zuvor in die gleiche Kerbe: „Es kommt zunächst darauf an, alles Posieren beiseite zu tun und einfach die Äußerungen des Lebens zu beobachten. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß alles kritiklos abphotographiert werden soll und daß ein Stück photographierter Natur, weil unbeeinflußt gegeben, auch schon wertvoll ist. Mit diesem Standpunkt würden wir auf das Niveau der unzähligen Handkamerabildchen herabsinken, in denen täglich eine Unsumme völlig bedeutungsloser Lebensmomente festgehalten wird. Es gilt, sehen und empfinden zu lernen, was wertvoll, wesentlich genug ist, photographiert zu werden.“
Erschreckend, dass schon damals was beschrieben und beklagt wurde, was sich heute in der digitalen Bilderflut summierte. Warum ist das, was seit über 100 Jahren beklagt wird noch immer ein Massenphänomen?
Das Problem mit der Zeit haben wir schon erläutert. Zeit, die der Kunde mitbringen muss und Zeit, die der Fotograf investieren muss. Aber man muss auch eine Offenheit haben, die Person gegenüber genau zu beobachten und zu lesen. Der Fotograf muss zu einer Vertrauensperson werden und in der Lage sein, die Facetten des Menschen vor ihm zu erkennen und bildlich umzusetzen. Er muss in die Tiefe gehen.
Keine Frage, auch der Fotograf, der mit seinen Bildern tiefer gehen möchte, zeigt natürlich die äußere Ansicht des Menschen. Auch Metzmacher stellt das Dilemma fest: „Die Komplexität des Sozialen und dessen Niederschlag im Individuum führen zum grundsätzlichen Problem des Portraits. Denn wie kann ein Bild auf der Leinwand eine Vorstellung vom Innenleben und vom Charakter des Portraitierten hervorrufen? Der Endzweck der Malerei liege schließlich, so betont Simmel wiederholt, in der vollkommenen Gestaltung der optischen Erscheinung, der Oberfläche.“ Er führt ein wenig später aber eben auch die Lösungsmöglichkeit auf: „Die künstlerische Hervorhebung bestimmter äußerer Merkmale stellt sich als Zugangsweg zum Individuellen dar. Versteht man das Wesen des Menschen als Ganzheit von Körper und Geist, spiegeln neben der Körperhaltung insbesondere die Gesichtszüge etwas von den vorangegangenen Lebenserfahrungen und deren Verarbeitung wider. Aufgabe des Künstlers ist es deshalb, so Simmel, das Gefühl für die Ganzheit durch das Portrait als einen eigentlich abstrakten Teileindruck zu ersetzen.“
Darüber hinaus haben wir Fotografen eine ganze Klaviatur narrativer Möglichkeiten: Setting, Requisite, Bildsprache, gestalterische Merkmale, Wahl des Aufnahmemediums etc.
Man merkt an dieser Stelle sicherlich den Aufwand, den man betreiben muss, wenn man mehr als nur die reine Oberfläche abbilden will und kann durchaus verstehen, warum manchen Kollegen es scheinbar eher am schnellen Durchsatz gelegen ist. Es ist eine in der heutigen Zeit ungewöhnliche Entschleunigung notwendig, um sich dem zu Portraitierenden so zu nähern. Sie ist aber wichtig, um nicht nur dem Portrait des Menschen gerecht zu werden, sondern auch um dem einzelnen Bild und dem Moment des Aufnehmens wieder den Wert zurückzugeben, der ihm zusteht.
Die analoge Fotografie ist hierfür übrigens ein wunderbares Werkzeug. Es geht um das Bewusstmachen des Bildes und Motivs noch bevor der Auslöser gedrückt wird. Es geht um die gedankliche Auseinandersetzung mit der Person vor der Kamera bevor fotografiert wird, damit die Bilder wirklich widerspiegeln, was den Menschen ausmacht, anstatt aus der bequemen digitalen Flut der Motive die auszuwählen, die dem wohl am nächsten kommen mögen.
Natürlich ist das nicht in jeder Situation der gewünschte und/oder notwendige Ansatz für ein Portraitbild. Gerade im geschäftlichen Bereich (Bilder für die Webseite oder die beruflichen Netzwerke) oder für den schnellen Weihnachtsgruß kann ein einfaches, schönes Abbild des Äußeren alles sein, was für diese Gelegenheit wirklich wichtig ist.
Ich möchte aber für die anderen Gelegenheiten — besonders die, die so selten im Leben vorkommen und daher so besonders sind, wie Schwangerschaften, Hochzeiten, Jubiläen — eben Bilder bieten, die tiefer gehen. Sie sollen etwas über die Person in eben diesem Moment erzählen und auch für nachfolgende Generationen festhalten — was auch wunderbar bei der Archivfestigkeit von Film und hochwertigen Drucken (> 100 Jahre) und Nassplatten (> 150 Jahre) funktioniert. Und natürlich auch für alle anderen Menschen, die Interesse haben, dass das Bild von ihnen dem Betrachter eine kleine Facette von ihnen näher bringt.
In der siebten Episode unseres Podcasts vom Studio Kreativkommune haben wir übrigens genau dieses Thema aufgegriffen und ein paar Herangehensweisen diskutiert — sowohl für die Menschen hinter der Kamera als auch davor. Wenn Du das Thema vertiefen möchtest, ist das eine gute Ausgangsmöglichkeit. In dem Podcast empfehlen wir auch ein ganz besonderes Buch, das viele hervorragende Ansätze und Impulse bereithält: BIG SHOTS! PEOPLE – Die Geheimnisse der Portraitfotografie (Amazon Partnerlink). Das Buch gibt es auch für ein paar Euro günstiger als englische Version: Read This if You Want to Take Great Photographs of People (Amazon Partnerlink). Und natürlich kannst Du mit mir gerne in den Kommentaren unten diskutieren.
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Ist das Problem nur Zeit? Sondern nicht vorallem, was heute meistens gegen Zeit getauscht wird: das liebe Geld. Damit jemand tatsächlich auch psychologisch/philosophisch gesehen ein Porträt von mir machen kann, müsste er soviel Aufwand betreiben, dass ich gar nicht in der Lage wäre das zu bezahlen.
Ich werde mir mal die Podcast-Folge anhören und mich vllt mit dem Buch beschäftigen. Aber auf jeden Fall interessanter Ansatz. Auf die schnelle denke ich evtl. auch viel zu eingeschränkt…
Nein, das Problem ist natürlich, dass Zeit Geld ist und es für viele Fotografen attraktiver ist, den Kunden möglichst schnell rein und wieder rauszubekommen. Ob damit eine gute Kundenbindung geschaffen wird, lassen wir mal außen vor. Im Podcast gehen wir aber auch darauf ein, dass es natürlich eine Problematik ist und die „Geiz ist geil“-Ketten natürlich nur funktionieren, weil sie einen entsprechenden Durchsatz machen.
Allerdings geht es ja auch nicht darum, den Menschen vor der Kamera in ALL seinen Facetten abzulichten – das geht weder von der Zeit noch von der Beschränktheit der fotografischen Möglichkeiten. Aber man kann auch in vergleichsweise kurzer Zeit viel über einen Menschen erfahren – wenn beide offen dem gegenüber sind.
Das Dilemma, wenn ich Menschen (Freunde, Familie, Patenkinder ab etwa 5 Jahren, …) porträtieren möchte: Sie fangen beim Anblick einer Kamera an, zu posen. Ich versuchte bisher, ohne Ankündigung während des Fluss des Lebens Momente einzufangen, möchte aber gern ernsthaft an die Sache rangehen. Wie bekomme ich bloß meine mit der Wahrnehmung des Gegenüber übereinander, das ist mein Dilemma?. Als Hobbyfotograf habe ich vielleicht den Charme, dass ich nicht ernt genug genommen werde und könnte mich ausprobierrn. Die erste Verabredung steht, fehlt noch der Termin….?
Ich denke, dass schon mal viel dadurch geschaffen wird, wenn Du (wie im Podcast beschrieben) die Bühne bereitest und den Menschen nur so grob anleitest, dass er sich selbst positioniert. Wenn er in das künstliche Posen geht, weise ihn darauf hin und sage z.B. „stell Dich jetzt so an die Wand, wie Du es auch machen würdest, wenn Du auf jemanden wartest“. Also immer auf etwas zurückführen, was diese Person dann auch im echten Leben machen würde. Das künstliche Posieren dann grundsätzlich nicht fotografieren, sondern nur das, was Du dann für Dich passend empfindest, dann merken sie auch, dass Posieren sich nicht „lohnt“, da Du dann eh nicht abdrückst, abgesehen davon, die meisten Menschen die Maske nicht so lange aufrecht halten können. Warte so lange bis die Maske fällt.
Bei harten Fällen kann es auch gut sein, wenn Du eine künstliche Pose aufnimmst, eine so, wie Du es haben möchtest und der Person dann auf dem Display den Unterschied zeigst. Die meisten erkennen nämlich dann auch, dass das eine unfassbar künstlich aussieht und nicht sie sind, während das andere genau das Passende ist.
Das Problem ist halt, dass es nicht DAS Patentrezept gibt. In den verschiedensten Fällen helfen nur unterschiedliche Sachen. Da muss man mit der Zeit ein Gespür für entwickeln und verschiedene Sachen ausprobieren. Das hier genannte Buch bringt auf jeden Fall ein paar sehr gute Ideen, was man versuchen kann: https://amzn.to/36vook0
Ein toller Artikel vielen Dank dafür. Ich schieße Portraits nur auf der Straße. Wenn ich jemanden interessant finde frage ich danach. Manchmal passiert was magisches und mir fällt dann der Satz von Salgado ein: „Ein Portrait macht man niemals alleine, der andere stinkt es einem“